Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste,
es freut mich sehr, hier zu sein. Zum einen, weil es eine Ehre ist, bei der Verleihung eines Preises reden zu dürfen, dessen Namensgeber ein Überlebender der Gräuel der NS-Zeit war. Zum anderen freue ich mich, weil ich junge Frauen und Männer sehe, die sich mit der Vergangenheit, aber besonders in diesem Jahr auch mit der Gegenwart des deutsch-jüdischen Lebens beschäftigen. An dieser Stelle, auch von meiner Seite, Glückwünsch an alle drei Gewinner dieses Jahres.
Bevor ich aber weiterrede und Ihnen meine persönliche Sicht vom heutigen jüdischen Leben in Deutschland kurz erläutere, wäre es nicht verkehrt, wenn alle zunächst erfahren, wer hier überhaupt redet und warum.
Mein Name ist Yan Wissmann, 30 Jahre alt. 22 davon verbrachte ich in Brasilien, wo ich geboren und aufwachsen bin. Ich bin zudem Enkelkind deutscher Juden (jüdischer Deutsche?), die 1937 und 1939 nach Brasilien aus bekannten Gründen flohen.
Es war 2013 als ich zum ersten Mal Deutschland wegen meines Studiums besuchte – das Land, in dem nicht nur meine Großeltern geboren wurden und welches sie unter dem Zwang der Verfolgung verlassen mussten. Es ist auch das Land, in dem 8 Jahre später meine Tochter gesund geboren werden würde und – wenn sich alles auf der Welt hoffentlich mal beruhigt – in dem sie fröhlich, in einer sicheren und relativ hochentwickelten Umgebung aufwachsen kann.
Es war hier auch, wo ich mich in meinen 20-ern sehr stark mit meiner eigenen Herkunft beschäftigte und mich für meine eigene Herkunft engagieren konnte. Letzteres war vor allem in meiner Zeit als zunächst Stipendiat und später Stipendiatensprecher eines jüdischen Studienwerks möglich.
Ich stehe heute hier allerdings nicht, um über mich selbst zu reden, sondern über ein unmittelbar mit mir verbundenes Thema zu sprechen: „Jüdisches Leben heute“ – ich nehme stark an, dass ich ein „in Deutschland“ dahinter setzen kann und genau darüber möchte ich jetzt etwas sagen.
Zugegebenermaßen empfinde ich das Thema als schwierig und den Grund erkläre ich gleich.
Zunächst darf man feststellen, dass sich jüdisches Leben zum Glück in Deutschland wieder etabliert hat. Das ist m.E. die Wahrnehmung sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als auch in der breiten Gesellschaft.
Das ist an zwei Tatsachen zu erkennen:
Die eine ist, dass man in Großstädten, wie Berlin, München oder Frankfurt wieder große, wachsende, sichtbare Gemeinden sieht. Verhältnismäßig leben viele Juden wieder in Deutschland. Die starke Einwanderung von Israelis nach Berlin ist hierbei wirklich nur ein Teil der. m.E. sehr gelungenen Wiederherstellung von jüdischem Alltag auf deutschem Boden. Meine eigene Migrationsgeschichte spricht ja für sich.
Die andere Tatsache ist, dass jüdisches Leben in den letzten 10 Jahren, oder zumindest seitdem ich hier lebe, stets präsent im Alltag ist, insbesondere im medialen Alltag. Im Radio, im Fernsehen, in staatlich organisierten Veranstaltungen mit Bezug auf das jüdische Leben, in interessanten, schönen Museen wie diesem, in Preisverleihungen wie der heutigen. Oft, wirklich oft, erlebt man den Versuch, jüdisches Leben sichtbar zu machen und die schon sehr alte Geschichte des Judentums in Deutschland zu erzählen.
Zwei Fragen beschäftigen mich jedoch immer mehr:
Mit dem Blick nach innen: wie leben Juden das Judentum in Deutschland heute aus?
Mit dem Blick nach außen: wie lässt sich Judentum als das etablieren, was es sein soll: ein normaler Teil der deutschen Gesellschaft?
Zunächst zur ersten Frage: Das Judentum ist, wie die breite Gesellschaft, vielfältiger geworden. Gerade die starken Veränderungen der Gesellschaft gehen an der jüdischen Gemeinschaft natürlich nicht vorbei und können darin ebenso eine starke Transformation trotz einer so starken, alten und traditionsbewussten Kultur bewirken, wie wir es in der allgemeinen Gesellschaft haben.
Von der Frage über die Gleichberechtigung der Frauen im Ritus über die Stellung von Personen aus der LGBT-Community im Judentum bis hin zu der grundsätzlichen Frage „wer ist ein Jude“ – all das ist gegenwärtig und beschäftigt diese Gemeinschaft sehr stark. Das stellt jedoch das Judentum nicht in Frage, sondern bietet die Möglichkeit, sich damit neu auseinanderzusetzen und darin Sinn für alle Juden zu schaffen, die sich ihrem Judentum widmen und zugehörig fühlen wollen. Nicht nur das! Das bietet eine große Chance, sich mehr mit den vorhandenen Herausforderungen von innen als mit denen von außen zu beschäftigen – denn es sollte allen klar sein: Judentum ist nicht die Shoa, Judentum ist nicht Antisemitismus, Judentum ist nicht der Nahostkonflikt.
Nun zur zweiten Frage: wie kann Judentum ein normaler Teil der deutschen Gesellschaft werden? Das ist – ohne Zweifel – die deutlich schwierige Frage.
Wie ich schon sagte, Judentum ist medial, politisch sehr präsent – und zwar bundesweit. Hier mal ein Interview zur Familiengeschichte eines jüdischen Schriftstellers und zu seinem Sicherheitsgefühl in Deutschland, oder die kleinen Stolpersteininitiativen in der schwäbischen Kleinstadt, oder eine immer geschichtsbewusste Rede unseres Bundespräsidenten über das “Wunder der Versöhnung“ hinsichtlich der Präsenz von Juden in Deutschland trotz der Schoa.
Es gibt durchaus viele Anlässe, wo das Judentum sichtbar gemacht wird und die zur Wahrnehmung von Juden im Land beitragen. Doch was fällt Ihnen bei meinen Beispielen auf? Judentum bedeutet hierzulande oft entweder Antisemitismus oder Erinnerung an die Shoa.
Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Antisemitismus ist real und die Shoah ist Bestandteil unserer gemeinsamen Geschichte. Es ist notwendig, dass wir uns als Individuen sowohl mit der Verhinderung von Diskriminierung als auch mit der Bedeutung der Geschichte auseinandersetzen.
Ich sehe jedoch als junger Jude ein starkes Problem, wenn diese negativen, opfervollen Assoziationen mit dem Judentum fast tagtäglich hergestellt werden. Doch ich habe kein Rezept, keine Antwort für eine Normalisierung des jüdischen Lebens in Deutschland. Ich kann aber sagen, was wir auf der Suche nach dieser Antwort brauchen.
Wir brauchen eine vielfältige Wahrnehmung des Jüdischseins in diesem Land für eine gesunde, normale Zugehörigkeit der jüdischen Gemeinschaft in der breiteren Gemeinschaft. Wir brauchen lässige, lockere Begegnungen zwischen Juden und nicht-Juden, um Normalität herzustellen. Wir brauchen weniger Theater in der Interaktion von Medien mit Juden. Wir brauchen deutlich weniger politische Sonntagsreden und leeres Mitleid gegenüber Opfern von Antisemitismus und mehr persönlichen Einsatz durch nicht-Juden, um einen jüdischen Mitbürger im Notfall zu verteidigen. Wir brauchen mehr Menschlichkeit, um Juden zu einem normalen Teil dieses Landes zu machen, denn sie sind nur das, normale Menschen.
Wie gesagt, das Thema ist nicht leicht. Ich wollte diese Gelegenheit heute nutzen, um in aller Ehrlichkeit meine persönliche, nicht-prominente Sicht des jüdischen Lebens heute in Deutschland in diesem breiteren Kreis zu zeigen und zur meiner ersehnten Normalisierung beizutragen.
Judentum ist geprägt von einer komplexen, reichen und lebensfrohen Tradition, die mehr denn je lebt und leben möchte. Allein in der Region, die wir als Deutschland kennen, ist das Judentum seit mehr als 1700 Jahren zu Hause. Trotz der negativen Seiten leben wir heute in und jetzt als Teil von Deutschland und tragen täglich als Bürger zu unserem Gemeinwesen bei.
Ich glaube fest daran, dass das Judentum in Deutschland eine Zukunft hat und es liegt in unseren Händen, dass jüdisches Leben heute und auch morgen möglich und normal wird.
Yan Wissmann, 15.10.2022, Michael W. Blumenthal Akademie