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Auszug aus dem Buch

„[Nach sechs Wochen eingesperrt im Gestapo-Bunker] hörte Rolf Joseph dann eines Morgens eine scharfe Stimme eines Aufsehers, der mit einem Tritt gegen seine Bunkertür seinen Schergen bekannt gab:

„Morgen geht der in den Transport nach Ausschwitz.“

Nun mag der Leser denken, es wäre das Schlimmstmögliche für Rolf gewesen, diesen Namen zu hören und zu wissen, dass er am folgenden Tag abtransportiert werden würde. Doch hatte Rolf weder von den Vergasungen der Juden gehört, noch war ihm der wirkliche Zweck dieses Ortes bekannt. Er war also „direkt froh, aus dem ollen Bunker rauszukommen“. Ein normales Arbeitslager mit frischer Luft und genug zu essen, das stellte er sich vor, als er am Vorabend seines Abtransportes guten Mutes seinen Vorstellungen freien Lauf ließ. Doch kaum war er mit diesen hoffnungsvollen Gedanken und der Gewissheit, nun die letzte Nacht in seinem Kerker verbringen zu müssen, eingedöst, als […] fünf junge Männer auf und neben Rolf in die ohnehin schon winzige Zelle gestoßen wurden. […] Froh [den Männern] etwas Positives erzählen zu können, erwähnte [Rolf] den Namen Ausschwitz und teilte seinen Mitgefangenen mit, dass er nun bald endlich aus diesem Loch herauskommen würde.

Ein Holländer, der gut Deutsch sprach, erwiderte tonlos: „Du, freu dich nicht, dass du nach Ausschwitz kommst; ich bin von der Gegend hergekommen und ich weiß, das ist ein Vernichtungslager!“

Nach und nach erzählte Abbis Lomper, der Holländer, von den Schrecken und Grausamkeiten dieses Ortes. Viele seien dort mit der festen Überzeugung hingefahren, es könne nur besser werden als in den dunklen, kalten Zwischenlagern, und von diesen Menschen habe man nie wieder etwas gehört.

[…]

Sie waren allein im hinteren Teil des Möbelwagens. Es war ein alter Wagen, in dem der Fahrer vorne in einer abgetrennten Fahrerkabine saß, die Gefangenen also weder sehen noch hören konnte. Trotz der Dunkelheit oder vielleicht gerade deswegen, denn Rolfs Augen waren durch die lange Zeit im Dunkeln geschult worden, konnte er oben über dem Kasten eine Werkzeugkiste ausmachen. »Jungs«, flüsterte Rolf, »hebt mich mal hoch!«

Heimlich und sehr bedacht, mit der Konzentration der grenzenlosen Angst, denn immerhin hätten sie jeden Moment entdeckt, gehört oder auf irgendeine Weise verraten werden können, durchsuchte er die Kiste und angelte sich mit dem einen nicht gefesselten Arm eine handliche Zange heraus. Schnell stellten ihn die Kameraden wieder auf die Füße, und er ließ die Zange in seiner Hosentasche verschwinden.

Schon bald stoppte der Wagen, die Türen wurden aufgerissen und die Gefangenen hinaus auf einen dreckigen Bahnhof gezerrt.

Hier bot sich Rolf nun ein furchtbares Bild: Eine große Reihe Güterwagen hielt auf den Gleisen, jeder Waggon war mit Stroh ausgelegt und in den Ecken standen kleine Eimer für die Notdurft. Vollständig aus Holz waren die Waggons, von der Größe eines heutigen Güterwaggons. An den Seiten und an der Front befanden sich mit Stacheldraht vergitterte Luken, die eine Flucht unmöglich machten.

Langsam wurden sie nun, zusammen mit Tausenden anderer Juden, zu einem großen Platz gedrängt. Hier wurden immer fünfzig Menschen abgezählt und wie Schlachtvieh einem Waggon zugeteilt. Frauen, die ihre Kinder zurücklassen mussten, schrieen, Männer versuchten, blind vor Schmerz, Widerstand zu leisten und wurden sofort an Ort und Stelle, vor aller Augen erschossen.

Völlig benommen von der Grausamkeit dieser Szenerie waren Rolf und seine aneinandergeketteten Kameraden in einem der Waggons gelandet, mitten unter weinenden Frauen, schreienden Kindern und sich vor Angst einnässenden Alten. Nach und nach verlor Rolf das Zeitgefühl. Der Gestank der zusammengepferchten Menschen und der fehlende Sauerstoff waren unerträglich.

Dann ruckte der Zug plötzlich und ein grelles Pfeifen ließ ihn hochschrecken – und gleich wieder zu Boden sinken, da er ja immer noch von den einschneidenden Handschellen zurückgehalten wurde. Der Zug setzte sich in Bewegung, unaufhaltsam verließen sie nun Berlin in Richtung Auschwitz.

Nein, er wollte nicht wieder an die schrecklichen Dinge denken, die er gestern Nacht von Abbis erfahren hatte. Vielleicht, so durchfuhr ihn ein verzweifelter Hoffnungsschimmer, würde er ja seine Eltern wiedersehen.

Tief bestürzt saß er da, hörte, wie die Menschen um ihn herum stöhnten und litten.

Als er einmal versuchte, in eine angenehmere Sitzposition zu gelangen und etwas zur Seite rutschen wollte, fühlte er in seiner Hosentasche die hastig verborgene Zange. Schnell hatte er seine »Ketten- Freunde« hellwach gemacht. In stundenlanger Arbeit bemühten sich nun die sechs Männer, die als Einzige im ganzen Waggon aneinandergekettet waren, ihre Handschellen gewaltsam aufzukneifen. In diesem entsetzlichen Gemenge, in diesem Meer aus Schreien und Panik war es unvorstellbar schwer, sich zu konzentrieren. Auf fremde Hilfe konnten sie nicht zählen, denn es herrschte eine solche Verzweiflung, dass jeder nur mit sich selbst beschäftigt war. Nach sechs Stunden aufreibender Fahrt, kurz vor Polen, hatten sie die Hände endlich wieder frei und fühlten sich etwas weniger gequält.

Hastig überlegten sie alles Erdenkliche, um aus dem überfüllten Waggon zu entkommen. In ihrer Zwangslage fiel ihnen schließlich nichts anderes ein, als rabiat die Holzbalken der Wände vorne einzutreten. Von dort gelangten sie auf das Gestänge zwischen den Wagen und stürzten sich waghalsig aus dem fünfzig Kilometer pro Stunde fahrenden Zug. Dabei mussten sie ein weiteres Hindernis bedenken: Ein Signaldraht, der neben den Schienen verlief, musste übersprungen werden, und die sechs Gefangenen mussten deshalb zusätzlich in die Höhe springen, um sich nicht darin zu verfangen. Hintereinander warfen sie sich aus dem fahrenden Waggon in den tiefen Graben neben den Schienen. Rolf hatte Glück, im Gegensatz zu seinen Kameraden veletzte er sich nicht. […]“