Ein Bericht der Jüdischen Allgemeinen, von Katharina Schmidt-Hirschfelder, September 2017
Die Erinnerungsvermittler
Zum vierten Mal zeichneten ehemalige Schüler herausragende Jugendprojekte zur Schoa aus
Die Begegnung mit Rolf Joseph war wegweisend – für Simon Strauss ebenso wie für Fabian Herbst und die anderen Mitglieder der sogenannten Joseph-Gruppe. Vor 14 Jahren hatten die damaligen Neuntklässler des Gymnasiums zum Grauen Kloster den Schoa-Überlebenden bei einem Besuch in der Synagoge Pestalozzistraße kennengelernt. Rolf Joseph, 1920 in Kreuzberg geboren, als jüdischer Jugendlicher ausgeschlossen aus seinem Fußballverein, überlebte die Schoa versteckt; dreimal entrann er mit letzter Kraft dem Tod.
Dennoch habe Rolf Joseph niemanden mit seinem Erbe »übermannt«, sagen sie. Von seinem Leben erzählte er wie von einem großen Abenteuer mit Geheimverstecken, Fenstersprüngen, Polizeistreifen, aber auch voll dumpfer Gewalt, Brüchen und Schmerz – wie dem etwa, als er von einer Straßenecke aus mitansehen musste, wie die geliebten Eltern in einen Lkw gestoßen und deportiert wurden.
Aus der ersten Begegnung wurden viele – er kam in die Schule, erzählte, lud die Teenager in seine Laube am Stadtrand und zu sich nach Hause ein. Ihm zuzuhören, bedeutete, »Abschied zu nehmen von langweiligen Politik-Stunden und Guido-Knopp-Pädagogik«, sagt Simon Strauss rückblickend.
LEBENSIDOL – Rolf Joseph sei »treffsicher in seiner Gegenwärtigkeit« gewesen – manchmal habe ein Satz von ihm gereicht, »um alles zu verstehen«. Der Schoa-Überlebende sei »viel mehr« als ein Zeitzeuge gewesen: ein echtes Gegenüber, ein bewundertes Lebensidol, ein Mittler durch die Zeiten hinweg. Ein Blick aus seinen traurigen Augen habe gereicht, um nie mehr zu vergessen. »Denn für uns lag diese Vergangenheit in weiter Ferne, aber durch ihn, seine Worte, seine Blicke, seine Hände wurde es nah, fühlten wir mit, sahen wir ein«, erinnert Strauss.
Für ihn wie auch für seine Mitstreiter werde Rolf Joseph immer derjenige bleiben, der ihm »das große Geschenk der unmittelbaren Erfahrung, der handfesten Schicksalsbegegnung« gemacht habe, jemand, der »auf sehr charmante Weise zum Nachfühlen einlud«.
Gemeinsam mit dem alten Mann schrieben die Jugendlichen seine Lebensgeschichte auf. »Wir haben ihm unser Buch noch vorstellen dürfen und die Veröffentlichung gefeiert; im November 2012 ist er dann gestorben.«
HOFFNUNG – Auch fünf Jahre nach seinem Tod will die Gruppe das Gedenken an Rolf Joseph wachhalten und ihrem Erbe als Erinnerungsvermittler gerecht werden. Den gleichnamigen Preisstiftete sie erstmals 2014 in der Hoffnung, dass Schüler »in dem Alter, in dem wir damals waren, als wir Rolf Joseph kennenlernten, ähnlich wertvolle Erfahrungen und Begegnungen mit dem jüdischen Leben machen wie wir«, so die Begründung.
In diesem Jahr wurde der Preis an zwei Schulklassen verliehen: an eine 8. Klasse aus dem baden-württembergischen Hemsbach und an die Untersekunda des Berliner Gymnasiums zum Grauen Kloster.
Die Hemsbacher Schüler dokumentierten die Spuren der jüdischen Familien ihrer Stadt filmisch und fragten: Wie würde Hemsbach heute aussehen, wenn die Familien noch da wären? Wie wäre es, mit den Enkeln in eine Klasse zu gehen? »Der Beitrag erinnert uns an die immerwährende Abwesenheit jüdischen Lebens«, so die Begründung. Diese Tatsache ins Gedächtnis zu rufen, dafür gebühre den Schülern Dank.
Auslöser für das Schülerprojekt der Berliner Gymnasiasten war eine Stolpersteinverlegung. Die Schüler gestalteten Flyer und Plakate, gingen auf die Nachbarn zu, setzten sich argumentativ mit der Initiative auseinander und drehten einen Comic-artigen »Draw-my-Life-Film« zum Leben der Familie Lipski. Sie machten deren Enkelin in Israel ausfindig und luden sie zur Stolpersteinverlegung ein. »Die Schüler haben eine Begegnung hergestellt – darauf kommt es an«, sagte Fabian Herbst. Eindringlich mahnte der 28-jährige Jurastudent Erinnerungsarbeit an – auch ohne Zeitzeugen.
VERANTWORTUNG – »Wir müssen erinnern, damit so etwas wie der Nationalsozialismus nie wieder passiert.« Diesen Satz habe er selbst oft als leere Floskel empfunden. »Denn ich dachte: ›So blöd sind die Menschen nicht, dass sie nicht aus der Vergangenheit lernen – für das Große macht es keinen Unterschied, ob ich im Kleinen erinnere.‹«
Doch er warnt: »Voraussichtlich wird in den nächsten Bundestag auch eine Partei einziehen, die sogar Holocaustleugner in ihren Reihen akzeptiert.« Und so sei der Leitfaden seines Handelns – »Wider das Vergessen« – eben keine Privatangelegenheit. Entstanden aus der Begegnung mit dem Schoa-Überlebenden Rolf Joseph, prägen ihn die Erfahrungen bis heute. Denn vor allem eines habe ihnen »ihr Herr Joseph« damals geschenkt: das wertvolle Gefühl der Verantwortung.
»Wir sind mit und über Herrn Joseph erwachsen geworden«, gibt Simon Strauss den Preisträgern mit auf den Weg. Denn zum ersten Mal hätten sie erfahren, wie zeitraubend, aber auch wie erfüllend und Gemeinsinn stiftend es sein könne, Verantwortung zu übernehmen für etwas anderes als sich selbst: die Erinnerung an das Leben eines Mannes, das viel zu schnell in Vergessenheit geraten könnte – und damit auch die eigene Zukunft.